Von der Stadtmode zur Volkstracht
Schweizer Volkstrachten sind uralt, bodenständig und in ihren Erscheinungsformen überliefert und unveränderlich. Das denken Sie wirklich? Dann ist es Zeit, dieses Bild zurechtzurücken: Die Schweizer Trachten sind genau besehen das Resultat modischer Verspätungen. Was in Paris, bei den Adeligen und in den Städten getragen wurde, erreichte die ländliche Bevölkerung oft erst mit erheblicher Verzögerung und wurde dort über längere Zeit beibehalten. Die Bauern trugen also im Grunde genommen veraltete Stadtmoden, die sie durch die Verwendung selbst hergestellter, solider Stoffe und ausgerichtet an die spezifischen Anforderungen ihres Berufes zu etwas Eigenem entwickelten; zu dem, was wir heute als "Tracht" kennen.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begannen sich allmählich die charakteristischen Volkstrachten zu entwickeln. Denn
selbst in den abgelegensten Tälern führte die weibliche Koketterie und der innige Wunsch, den Damen der höheren Ständen nachzueifern, zur Entstehung einer erstaunlichen Vielfalt an Trachten. Künstler, wie der als Trachtenmaler bekannt gewordene Luzerner Joseph Reinhard, dokumentierten damals diese Entwicklung mit detailgetreuen Gemälden.
Im 19. Jahrhundert bildeten sich viele der heute bekannten Trachten weiter aus, oft durch Übertreibung bestimmter modischer Elemente vergangener Epochen.
Schändliche Kleider und komplizierte Hüte
Mitunter gab diese Entwicklung bei den Obrigkeiten auch Anlass zur Sorge: Schon früh versuchten die Behörden, dem modischen Treiben Einhalt zu gebieten. Im Jahr 1481 beklagten die eidgenössischen Räte in Stans die "kurzen und schändlichen Kleider" der Männer, die kaum die Scham bedeckten, und drohten mit Strafen. Auch die Damenwelt bereitete Kummer. Verordnungen sollten den «Gemeinen» verbieten, was den Vornehmen vorbehalten war: Samt, Seide, kostbare Spitzen und ausländische Tuche. Als sich die höheren Stände in schwarz kleideten, weil die schwarzen Stoffe die teuersten und kostbarsten waren, verblieb den "Gemeinen" das rote Tuch, das in den roten Röcken der spanischen Mode seinen Ursprung hatte. Das führte dazu, dass rote Röcke und Mieder zu Merkmalen bäuerischer Trachten wurden, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein getragen, später aufwändig bestickt und mit kostbaren Seiden-Damasten veredelt wurden.
Die Kopfbedeckungen der Frauen entwickelten sich fast unabhängig von der Kleidermode und dienten als unmissverständliches soziales Leitsystem. Die weisse Haube war lange das Ehrenzeichen der verheirateten Frau; eine schwarze Haube zu tragen, galt als Schande. Jede Region und jeder Stand entwickelte dabei seine eigenen, oft komplizierten Kreationen.
Tourismus und Kommerz
Mit industriellen Revolution, der Verfügbarkeit günstiger Handelsware und dem Wandel der Lebensgewohnheiten im 19. Jahrhundert, begann der langsame Abschied von den Volkstrachten. In Regionen allerdings, die sich zu beliebten Reisezielen entwickelten, trug die Bewunderung der Touristen für die lokalen Bräuche und die malerische Kleidung dazu bei, die Trachten zu erhalten, sie gar zu fördern. Die Bewunderung durch fremde Besucher war ein wichtiger Faktor dafür, dass Trachten hoch geschätzt und - Sie ahnen es - kommerzialisiert wurden. Billige, oft verfälschte Trachtenkopien wurden populär und echte Bäuerinnen hörten auf, Tracht zu tragen, weil sie sich ihrer Tradition beraubt fühlten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war dieses Kulturgut weitgehend aus dem Alltagsleben verschwunden. Neuartige Kleidungen mit klaren Linien, schnörkellose, kniekurze, enge Röcke und Strümpfe aus Kunstseide bestimmten inzwischen die Damenkonfektion.
Am Vorabend des 1. Welktkriegs
Und doch erlebte die Tracht Ende des 19. Jahrhunderts eine Renaissance, quasi als Gegenentwurf zur städtischen Moderne. Und während des ersten Weltkriegs wurde das Tragen von Trachten zum patriotischen Symbol der geistigen Landesverteidigung; sie vermittelte Heimatliebe und Entschlossenheit. Die Kriegsgefahr liess das schweizerische Kulturgut neu aufleben, wie die am Vorabend des ersten Weltkriegs eröffnete Landesausstellung eindrücklich demonstrierte.
Auch später brachten die "fremden Modetorheiten" konservative Kreise in Wallung. Der "künstlerischen Überfremdung" sollte Einhalt geboten werden, weshalb am 6. Juni 1926 die Schweizer Trachten- und Volkslieder-Vereinigung gegründet wurde. Nicht etwa auf dem Land, sondern mitten in der Stadt Luzern. Denn interessanterweise waren es Leute aus der städtischen Oberschicht, die darauf bedacht waren, die Eigenart des Landes und die bäuerliche Kultur zu erhalten: Schweizerinnen sollten dazu ermuntert werden, sich für das "Kleid der Heimat" stark zu machen. Das bis dahin eher verspielte und bunte Trachtenwesen wurde fortan institutionalisiert. Erstmals wurden Vorschriften für das korrekte Tragen der Trachten und Richtlinien für die Trachten-Schneiderei erlassen - und durchgesetzt. Billige Nachahmungen und Kostüme wurden ausgemerzt. Die Tracht wurde praktisch neu erfunden und fand plötzlich auch in den Ständten grossen Anklang. So entstanden in den 1920er-Jahren viele neue Trachtengruppen in der ganzen Schweiz - auch in Spreitenbach.
Spreitenbacher Trachten: Irma Baumann in der Festtagstracht (schwarz) und Verena Treichler in der Sonntagstracht (rot). Ein Mieder, dessen Herkunft auf das 17. bis 18. Jahrhundert datiert wird, war ein historisches Stück aus Spreitenbach selbst und bildete die Grundlage für den Entwurf der Tracht im Jahre 1931.
Foto: R.H..
Spreitenbacher Werktagstracht (Verena Treichler). Sie entstand 1935 und wurde gleichzeitig zur Bezirkstracht ernannt. In den 1920er Jahren schufen Fachleute, Künstler, Historiker und engagierte Frauen wie die Gründerinnen der Trachtengruppe Spreitenbach in aufwändiger Arbeit neue Festtags-, Sonntags- und Werktagstrachten. Die Handarbeit kam dadurch - trotz Industrialisierung - zu neuen Ehren.
Foto: R.H..
Josef Reinhard (1749–1824), Brustbild einer Luzerner Trachtenfrau, 1865–1868, Öl auf Leinwand, 53.4 × 39.4 cm, Inv. 7386, Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte, Winterthur, 1992. © Foto: SKKG 2022, CC BY 4.0.
Reinhard malte im Auftrag des Seidenfabrikanten Johann Rudolf Meyer viele detailgetreue Bilder der Landbevölkerung aus fast allen Regionen der Schweiz. Darunter 140 Portraits von Menschen in Tracht. Beinahe alle heutigen Trachten waren ab den 1920er Jahren nach Gemälden wie diesen "neu erfunden" worden.
Die währschaften Spreitenbacherinnen
Trachtengruppen fanden sich zusammen mit dem Ziel, die Volkstrachten zu erhalten und die Volkslieder und -bräuche zu pflegen. So auch die Trachtengruppe Spreitenbach. Denn was ist schon ein richtiges Bauerndorf, ohne eine Trachtengruppe? "Im Januar des Jahres 1931 trat ein Grüppchen von sechs tüchtigen und währschaften Spreitenbacherinnen zusammen", steht in den Protokollbüchern der Trachtengruppe zu lesen. Es galt, eine neue Festtagstracht zu entwerfen. Pate stand ein Mieder aus dem 17. oder 18. Jahrhundert aus dem Hause Hintermann zu Spreitenbach, das über Umwege nach Wettingen anfangs des 20. Jahrhunderts wieder zurück nach Spreitenbach fand, in den Obstgarten zur Familie Lienberger-Halter. Sophie Wiederkehr-Weber, eine Landwirtin und begnadete Damenschneiderin entwarf basierend darauf ein Kleid, das Frau Prof. Dr. Laur (1) in Brugg und Frau Sophie Panchaud-de Bottens (2) in Zürich begutachten sollten. "Zur grossen Überraschung wurde die Festtagstracht von Brugg und Zürich gut geheissen und zur Anschaffung für unser Dorf empfohlen", hielten die Gründerinnen in ihren Aufzeichnungen fest. Und doch bedurfte es mehrerer Fahrten nach Brugg, bis alle Details den Vorgaben von Frau Laur entsprachen und die Tracht gutgeheissen wurde. Sechs Trachten wurden darauf hin genäht: "Wir sechs bildeten also die Trachtengruppe Spreitenbach. Klein aber friedlich, jedes um des anderen Rat erfreut."
Die Gründerinnen des Spreitenbacher Trachtenvereins 1931: (v.l.n.r.) Mina-Lienberger-Halter, Rosa Wiederkehr-Muntwyler, Sophie Wiederkehr-Weber, Gertrud Wiederkehr, Lina Weber-Weber und Ann Stauffacher-Lienberger. Foto: Trachtenverein, aus dem Gemeinde-Archiv Spreitenbach.
Die Trachtengruppe Spreitenbach 1932 in Laufenburg: (v.l.n.r.) Josefine Schuler-Wiederkehr, Rosa Labhart-Lienberger, Sophie Wiederkehr-Weber, Mina Lienberger-Halter, Gertrud Wiederkehr, Rosa Wiederkehr-Muntwyler, Amalie Bumbacher-Wiederkehr, Lina Weber-Weber. Foto: Trachtenverein, aus dem Gemeinde-Archiv Spreitenbach.
Die Bezirksarbeitstracht
1935 entstand die Werktagstracht. "Wiederum benötigte es Besprechungen mit der kantonalen Trachtenberatung", heisst es in den Protokollbüchern der Trachtengruppe. Die einfache blaue Tracht sei schliesslich so gut angekommen, dass sie sogar als Bezirksarbeitstracht anerkannt wurde, hielten die Frauen begeistert in ihren Büchern fest. Am 1. August 1935 wurde die blaue Werktagstracht Spreitenbachs zum ersten Mal stolz der Öffentlichkeit vorgestellt.
Trachtengruppe Spreitenbach an der Badenfahrt 1937. Trachtengruppen erfreuten sich an Grossanlässen und bei repräsentativen Aufgaben zunehmender Beliebtheit. Foto: Trachtenverein Spreitenbach, Gemeinde-Archiv.
Das Ende einer langen Tradition
Nach langen erfolgreichen Jahren setzten finanzielle Engpässe dem Verein zu. Die Zahl der Mitglieder wurde immer weniger und Nachwuchs für die Trachtengruppe zu motiveren, erwies sich als äusserst schwierig. Während der Corona-Massnahmen schlug die Stimmung definitv um. "Die Coronazeit hat auch unserem Verein die letzten Aktivitäten genommen", schrieb die Präsidentin Verena Treichler an den Gemeinderat Spreitenbach. Auf den 31. Juli 2022 wurde die Trachtengruppe Spreitenbach aufgelöst.
Die Spreitenbacher Tracht lebt indes weiter, teils in Privatbesitz und als verdankenswerte und wertvolle Spenden an das Ortsmuseum Spreitenbach.
Text: R.H.
Informationsquellen:
Die Volkstrachten der Schweiz, Julie Heierli, Universitätsbibliothek Heidelberg.
Blog des Schweizer Nationalmuseums (nationalmuseum.ch).
Archiv für Agrargeschichte (histoirerurale.ch)
Protokollbücher der Trachtengruppe Spreitenbach, Gemeindearchiv Spreitenbach.
Aufzeichnungen aus dem Ortsmuseum Spreitenbach.
Verena Treichler, ehemalige Präsidentin der Trachtengruppe Spreitenbach.
(1) Die Gutachterin in Brugg wird in den Originalaufzeichnungen der Trachtengruppe als Frau Prof. Dr. Laur erwähnt. Es handelt sich um Sophie Laur-Schaffner, verheiratet mit Prof. Dr. phil. und Ing. Agr. ETHZ Ernst Ferdinand Laur, damals Direktor des Schweizerischen Bauernverbandes.
(2) Die Kontaktperson in Zürich wird in den Originalaufzeichnungen der Trachtengruppe als Frau Dr. Prof. Panchaud beschrieben. Es handelt sich dabei um Madame Sophie Angélique de Panchaud de Bottens, die damals in den 1920er Jahren die erste Zürcher "Trachtenstube Neumarkt" betrieb, am Zürcher Neumarkt, im Haus zum Mohrenkopf. Sophie Panchaud-de Bottens sammelte Trachten. Ihre Sammlung (später im Trachtenmuseum Utenberg) spielte eine bedeutende Rolle für die Entwicklung der Trachten- und Volkskultur.