Geschichten aus der Geschichte

Manuscripta Rhenaugiensia

kloster rheinau 1124

Bernhardus de Griezheim

Rheinau, 26. November 1124. Der Kapitelsaal empfing Ritter Bernhard von Griessen mit einer feierlichen Kälte, die nichts mit dem Winter draussen zu tun hatte. Das Licht fiel in schimmernden Bahnen von den hohen Rundbogenfenstern herab und verlor sich im Schatten des gewaltigen Gewölbes. Es roch nach Stein, Ewigkeit und dem süssen Dunst flackernder Kerzen. Der Edelmann fühlte sich in seinem dunkelblauen Mantel wie ein Fremdkörper. Das Gold an seinem Hals funkelte in der frommen Dämmerung fast anstössig hell. Ihm gegenüber stand Abt Otto. Seine Augen musterten Bernhard nicht unfreundlich, aber mit der unbestechlichen Strenge eines Mannes, der nur Gott Rechenschaft schuldete. Zu seiner Seite kratzte bereits der Gänsekiel des Schreibers über das Pergament und hielt diesen Augenblick für die Ewigkeit fest. Hinter Bernhard von Griessen ging ein Raunen durch die Volksmenge.  Darunter Liutoldo von Stülingen und dessen Bruder Nokero von Wizinbure und viele weitere, die sich an diesem Ort versammelt hatten, um Zeugnis abzulegen, von dem, was nun geschehen sollte.

Auszug aus dem Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich, im Jahre 1888 herausgegeben von der Commission der antiquarischen Gesellschaft in Zürich. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek, Digitalisierungs-Zentrum.

Im 20. Jahrhundert nutzten moderne Historiker Hohenbaums Abschrift als Quelle, um die darin enthaltenen Überlieferungen im Zürcher Urkundenbuch kritisch zu edieren.Das Urkundenbuch an sich ist eine Sammlung historischer Quellen. 

Am 3. November 1125 bestätigte König Lothar III. dem Kloster Rheinau die Vergabung des edlen Bernhard von Griessen und damit auch die neuen Besitzesverhältnisse der Hube in villa Spreitenbach, die in Zivrigow (Zurichgau) liegt. Monumenta Germaniae Historica, Bd. 8, Thodor von Sickel. Quelle: Bayerische Staatsbibliothek, München.

Manuscripta Rhenaugiensia - Codex St. Blasien 33 bis 37, Historia diplomatica monasterii Rhenaugiensis, Abschrift von 1783 durch Moritz Hohenbaum van der Meer. Quelle: Badische Landesbibliothek Karlsruhe, DirektlinkDiese Abschrift ist extrem wichtig, weil sie das heute verlorene Urkundenbuch des Klosters Rheinau aus dem 12./13. Jahrhundert überliefert. Es ist demnach dieses in Karlsruhe archivierte Dokument, das als historische Quelle die erste urkundliche Erwähnung Spreitenbachs dokumentiert. 

Mit dem Eintritt des Bernhart von Griessheim in das Kloster Rheinau erlosch der Hauptstamm dieses Geschlechts. Es existierte nur noch in Seitenlinien bis ins 16. Jahrhundert. "Bernhart ward endlich selbst Mönch zu Rheinau; sein Hinscheiden ist auf den 13. März (1125) angezeichnet", schrieb Moritz Hohenbaum van der Meer 1778 in seiner "kurzen Geschichte der tausendjährigen Stiftung des Gotteshauses Rheinau". 

Manuscripa Rhenaugiensia - Cod. St. Blasien 33 bis 37 (Pars I). Mauritius Hohenbaum van der Meer, Federzeichnung: Münzen mit Darstellungen Findans. Quelle: Badische Landesbibliothek, Karlsruhe.

Die Schenkung

In Liebe zum ewigen Leben

Die Stimme des Schreibers hallte von den Steinwänden wider, eine Litanei des Reichtums: „…Benefactor Bernardhus von Griesheim, bewegt von der Liebe zum ewigen Leben, überträgt dem Kloster, das Rheinau genannt wird, seine Besitztümer zu Griessen, zu Rüti und eine Hube im Dorf namens Spreitenbach, im Zurichgau ... All dies und was dazu gehört übereignet er dem Recht und Eigentum des vorgenannten Klosters. Dies geschieht unter der Bedingung, dass er fortan im selben Kloster seinen nötigen Unterhalt, wie es sich für einen Mönch geziemt, erhalte, und dass der Abt Otto und die Mönche sowie deren Nachfolger die Macht haben, mit diesen Gütern so zu verfahren, wie es ihnen zum Nutzen der Kirche sinnvoll erscheint ..."

Als die Stimme verstummte, trat Bernhard von Griessen vor. Mit einer langsamen, zittrigen Bewegung zog er den goldenen Siegelring vom Finger. Das Wachs zischte, als es auf das kalte Pergament tropfte. Er drückte sein Wappen in die rote Masse – ein letztes Mal legte er als Adeliger Zeugnis ab. Dann löste er den Gurt und liess sein Langschwert langsam zu Boden sinken.

 

Dieses historische Ereignis ist szenisch interpretiert und frei beschrieben. Und doch muss es sich in dieser Weise zugetragen haben. Damals, im Kloster Rheinau, als es das unscheinbare Bauerndorf Spreitenbach im Zurichgau (Zurichgove) zum ersten Mal in die Annalen der Geschichte schaffte. Und das nur deshalb, weil der "Wohltäter Bernhard von Griesheim", vermutlich bereits sterbenskrank und vom Verlangen nach ewigem Leben ergriffen, alle seine Besitzungen dem Kloster vermachte, in das er als Mönch aufgenommen werden sollte. Nachzulesen im Urkundenbuch der Stadt und Landschaft Zürich (UBZ). In lateinischer Sprache in einem gedruckten Buch aus dem Jahre 1888, verfasst von Dr. J. Escher und Dr. P. Schweizer, herausgegeben von der "Commission der antiquarischen Gesellschaft in Zürich".

 

Spurensuche

Das verschollene Chartular

Die Schenkung erfolgte lange vor der Erfindung des Buchdrucks. Wo also ist das Original-Dokument? Das handschriftlich verfasste Chartular des Klosters Rheinau? In ein Chartular wurden die wichtigsten Urkunden, Besitzrechte und Privilegien eines Klosters abgeschrieben, um sie an einem Ort gesammelt zu haben.

Die Suche beginnt im Kloster Rheinau, wo das Original-Chartular im 12. Jahrhundert angelegt wurde. Das Kloster wurde allerdings 1862 aufgehoben, seine wertvolle Bibliothek in die Kantonsbibliothek Zürich überführt. Deshalb sind die Originale aus Rheinau heute hauptsächlich in Zürich, zum Teil auch im Kloster Einsiedeln zu finden. Nicht aber das Chartular von Rheinau aus dem 12. Jahrhundert; dieses gilt als verschollen.  

 

 

Die Rettungstat

Moritz Hohenbaum van der Meer

Eine weitere Spur führt in das Kloster St. Blasien, im Südschwarzwald. Dort treffen wir auf den gelehrten Benediktinermönch und Historiker Moritz Hohenbaum van der Meer. Er legte umfangreiche Quellen-sammlungen in Abschrift an, so 1783 auch eine handschriftliche Kopie des Rheinauer Chartulars. Hohenbaum wollte den Inhalt des alten, vielleicht schon zerfallenden Rheinauer Urkundenbuchs für seine Forschungen und für die Nachwelt bewahren. Mit seinen Abschriften „Manuscripta Rhenaugiensia“ rettete Hohenbaum den Inhalt des Rheinauer Chartulars vor dem Vergessen. Die von Hohenbaum erstellte Handschriftensammlung ist also kein mittelalterliches Original. Sie ist eine sorgfältige Kopie aus dem 18. Jahrhundert und gerade deshalb als historische Quelle besonders wertvoll.

 

die bibliothek

Von St. Blasien nach Karlsruhe

Das Kloster St. Blasien wurde 1806 im Zuge der Säkularisation ebenfalls aufgelöst. Seine riesige Bibliothek, einschliesslich der von Hohenbaum angefertigten Abschriften, gelangte nach mehreren Stationen grösstenteils in die Badische Landesbibliothek in Karlsruhe. Und dort werden wir tatsächlich fündig: in der 1783 handschriftlich angefertigten Kopie des Rheinauer Chartulars (heute Cod. St. Blasien 33 bis 37), archiviert in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, ist die erste urkundliche Erwähnung Spreitenbachs dokumentiert, verfasst von Moritz Hohenbaum van der Meer.  

 

 

900 Jahre nach dieser ersten urkundlichen Erwähnung feierte die Gemeinde Spreitenbach 2024 ihr grosses Jubiläum unter anderem mit einer Film-Chronik, welche die Entwicklung des Ortes über die Jahrhunderte nach-zeichnet.

 

Text: R.H.

Schreibweise der Namen sind entsprechend jener in den zitierten Dokumenten übernommen. Die Informationsquellen sind in den Texten direkt mit den Archiven der genannten Institutionen verknüpft.