Ein brandgefährliches Produkt
Im späten 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung Europa im Sturm eroberte, betrat Graf Hilaire de Chardonnet, ein französischer Chemiker und Schüler von Louis Pasteur, die Bühne der Textilwelt. Nach zähen Versuchen gelang es ihm, einen Traum zu verwirklichen: den künstlichen Seidenfaden. Auf die Idee war er gekommen, weil Ende des 19. Jahrhunderts eine Seuche die Seidenraupen befallen hatte. Sein Verfahren war ebenso genial wie chemisch anspruchsvoll. Vereinfacht dargestellt, verwandelte er Maulbeerblätter, die Nahrung der Seidenraupen, mit Salpeter- und Schwefelsäure zu Cellulosenitrat; einem leicht entzündlichen und extrem schnell brennenden Material, das Schiesswolle ähnlich ist. Diese weisse, faserige und geruchlose Masse liess Chardonnet durch chemische Modifikationen zu einem endlosen Spinnfaden verarbeiten. Das Ergebnis war eine künstliche Seide, die der Graf 1889 stolz auf der Weltausstellung in Paris präsentierte. Obwohl er sein erstes Patent bereits 1884 angemeldet hatte, gab es bis zur Pariser Ausstellung 1889 allerdings kaum kommerzielle Fortschritte. Denn der Herstellungsprozess des extrem entflammbaren Produkts war im sprichwörtlichen Sinne brandgefährlich.
1890 eröffnete Chardonnet seine erste Fabrik in Besançon. Noch im selben Jahr blickte Chardonnets Gesellschaft über die Grenzen Frankreichs hinaus und entdeckte das beschauliche Spreitenbach. Dort, im abgelegenen Weiler "Chessel", stand eine ehemalige Baumwollspinnerei aus dem Jahre 1862 – der perfekte Ort, um seine neue Technologie in einer Versuchsanlage zu erproben und mit einem Denitrierungsverfahren weiterzuentwickeln. Es dürfte also kaum Zufall gewesen sein, dass sich Chardonnet - im Wissen um die Gefährlichkeit seiner Produktionsmethode - für die Fabrik weit abseits des Bauerndorfes Spreitenbach entschieden hatte.
Als sich langsam ein marktfähiger Erfolg einstellte, verlegte der Graf 1893 – auf Druck mehrerer französischer Geldgeber – die Versuchsanlage zurück nach Besançon (Quelle: Nitrocellulose Industry, by Edward Chauncey Worden, Vol. I).
Graf Hilaire de Chardonnet, geboren 1839 in Besançon, war ein französischer Chemiker und Industrieller. Bekannt wurde er als Pionier in der Entwicklung künstlicher Seide und als Gründer der ersten Fabrik für Kunstseide. Foto aus dem Jahre 1926: Wikipedia, public domaine.
Damenkleider aus Chardonnets Kunstseide erwiesen sich als hochgradig brennbar und entzündeten sich bisweilen bereits in der Nähe eines Kamins. Die Presse berichtete wiederholt darüber, weshalb sich ein nicht gerade absatzförderndes Bonmot verbreitete: »Schwiegermutterseide«. Chardonnet löste das Problem mit Hilfe von Schwefelverbindungen, die denitrierend wirkten und die Brennbarkeit reduzierten. Das verhalf zwar den Schwiegermüttern zu einer höheren Lebenserwartung, aber die Seide wurde brüchig.
Industrieanlage Chessel, 1920. Die ehemalige Baumwollspinnerei wurde 1890 in eine Kunstseidenfabrik umgebaut. Nach dem Niedergang der Kunstseidefabrik wurde sie in eine chemische Fabrik umstrukturiert und während der gesteigerten Kriegsproduktion ab 1915 von der Gesellschaft für elektrochemische Industrie für Rüstungsaufträge genutzt. Foto: Archiv des Ortsmuseums, Urheber unbekannt.
Postkarte vom 23. September 1902 aus der Kunstseide-Fabrik Spreitenbach, adressiert an einen Empfänger in Baden. Oben dargestellt, die Fabrikanlage von der Hofseite in Richtung Würenlos gesehen, unten rechts die Arbeiter-Wohnhäuser. Archivat des Ortsmuseums.
Feuerwehr "Chessel" ca. 1920, v.l.n.r.: Lovato Angelo, Müller Ernst, Schädler Josef, Gaibatti, Lips Jean, Müller Hans, Locher Hermann, Müller Adolf (Vater v. Ernst) Archiv Ortsmuseum. Restauriertes Foto aus dem Nachlass von Kurt Wassmer.
Patent-Umschreibungen eines Verfahrens zur teilweisen Denitrierung der Chardonnet-Seidenfabrik Spreitenbach. Färberzeitung 1898, Organ der Färberei, Druckerei, Bleicherei, der Berliner Färber-Akademie. Quelle: Columbia University, Library.
Dynamogruppe "Kessel Spreitenbach", Jean Lips, geb. ca. 1890, Aufnahme ca. 1920. Zu diesem Zeitpunkt war die Kustenseidenfabrik Spreitenbach bereits Geschichte und die Anlage wurde zwischenzeitlich für Rüstungsaufträge genutzt. Archiv Ortsmuseum, restauriertes Foto aus dem Nachlass von Kurt Wassmer.
Farbig gewebtes Seidenbild zum 600jährigen Bestehen der Eidgenossenschaft. Sammlung Ortsmuseum Spreitenbach.
Ein infernalisches Ende
Für kurze Zeit stiegen Johann Widmer aus Richterswil und Robert Zerkovic aus Wien, in Spreitenbach in das Kunstseidengeschäft ein, indem sie mit ihrer eigenen Technik ihr Glück versuchten. Allerdings mit wenig Erfolg. Schliesslich übernahm der französische Graf Gaston de Coral das Ruder der "AG Seidenfabrik Chardonnet Spreitenbach" und setzte auf Chardonnets bewährtes Verfahren. Die Zuversicht war so gross, dass am 24. Juni 1894 sogar eine feierliche Einsegnung der Fabrik stattfand. Der Segen von ganz oben sollte dem ehrgeizigen und nicht minder gefährlichen Projekt den nötigen Beistand verleihen. Schon bald arbeiteten rund 250, grösstenteils italienische Arbeitskräfte in den umgebauten Hallen der Kunstseidenfabrik.
Aber die Kunstseideproduktion in Spreitenbach stand unter keinem guten Stern: Am 12. März 1896 verunglückten der Schmied, Johann Widmer aus Killwangen, und dessen Lehrling Alois Scherrer tödlich. Eine Eisengiesserei in Zürich hatte einen neuen gusseisernen Kessel hergestellt und geliefert. Johann Widmer sollte diesen montieren und einer Festigkeitsprobe unterziehen. Eine unglückliche Kombination aus Fahrlässigkeit und technischer Unkenntnis führte dazu, dass bei der Probe ein viel zu hoher Druck erzeugt wurde. Der Kessel explodierte, der Schmied und sein Lehrling kamen ums Leben. Das Gericht erkannte eine Mitschuld der Firmenleitung und verurteilte Gaston de Coral zu einer Entschädigung von 3000 Franken zugunsten der hinterbliebenen Witwe. Aber auch die Geschäfte liefen nicht, wie erwartet. Die Kunstseide aus Spreitenbach schaffte den Durchbruch in der lokalen Seidenindustrie nicht. Zudem entwickelte die Konkurrenz mit dem Kupferseide-prozess neue, weniger gefährliche Verfahren und produzierte bessere Qualität bei tieferen Kosten. Doch der grösste Schicksalsschlag ereilte die Fabrik am späten Nachmittag des 26. November 1899, ausgerechnet an einem Sonntag: In der Produktionsanlage kam es zu einer verheerenden Explosion, die Fabrik brannte vollständig nieder. Ein infernalisches Ende für eine ambitionierte Vision.
Das Ende eines Traums
Doch die Geschichte der Kunstseidenfabrik zu Spreitenbach war damit noch nicht zu Ende. Die Fabrik wurde wieder aufgebaut und sogar vergrössert. Die "AG Seidenfabrik Chardonnet Spreitenbach" versuchte sich neu zu erfinden. Aber die Brandschäden und die hohen Schulden lasteten schwer auf dem Unternehmen. Die Bilanz von 1899 wies ein Defizit von 242.000 Franken auf.
Der damalige kaufmännische Direktor, Emil J. Westermann, versuchte in seiner prekären Lage, eigene Aktien zu verkaufen. Dabei täuschte er Anleger, indem er behauptete, die Aktien stammten von einem Londoner Freund, und versprach, der Wert würde sich verdoppeln oder verdreifachen – wohl wissend um die katastrophale Finanzlage.
Der Betrug flog auf, und ein Gerichtsurteil vom 20. Dezember 1901 zwang Westermann, einem Käufer 15.000 Franken zurückzuerstatten. Das Bundesgericht stellte fest, dass Westermann die Wahrheit über die Finanzen der Gesellschaft, den Brandschaden von 153.255 Franken und das immense Defizit von 242.000 Franken gekannt und arglistig verschwiegen hatte.
Die Fabrik wurde 1901 liquidiert und für 500.000 Mark an die "Vereinigten Kunstseidenfabriken in Frankfurt a/M" verkauft. Das Brisante daran: Hilaire de Chardonnet war Mitbegründer der Vereinigten Kunstseidenfabriken. Dennoch blieb das Glück weiterhin aus: Schon 1905 wurden die Werke in Spreitenbach wegen Unrentabilität stillgelegt und 1910 endgültig liquidiert.
Ein Grossteil der italienischen Gastarbeiter, die einst die Hoffnung auf ein besseres Leben nach Spreitenbach gelockt hatte, kehrte in die Heimat zurück; einige Familien blieben und wurden Teil der Gemeinde.
Die Fabrikgebäude im Chessel erlebten in den folgenden Jahren weitere Umnutzungen. Aber das sind andere Geschichten der fortschreitenden Industrialisierung Spreitenbachs ...
Arbeiter-Wohnhäuser, die sog. Kosthäuser, der Kunstseidenfabrik im Chessel. Hier im Chessel, nahe der Limmat, lebten und arbeiteten bis zu 250 Fabrikarbeiter, fernab des Dorfkerns Spreitenbach, Foto: Archiv Ortsmuseum, Urheber unbekannt.
Text R.H. basierend auf einem Traktat von W. Trippel und ergänzenden Recherchen in Library of Princeton University (Chemiker Zeitung), Columbia University - Library (Färber Zeitung), Cornell University Library (Nitrocellulose Industry by Edward Chauncy Worden), Library of the University of Illinois (Zeitschrift für angewandte Chemie, Dr. Ferd. Fischer), Universität Bern, Fallrecht.