
Ein Bauerndorf im Wandel
Es war einmal ein kleines, unscheinbares Bauerndorf, das tief im Schatten des Heitersberges von der grossen Geschichte vergessen schien. Bis in die 1950er Jahre war Spreitenbach genau das. Doch dann erwachte der Ort aus seinem Dornröschenschlaf und erlebte einen Wandel von atemberaubender Geschwindigkeit: Shopping Center, Tivoli und Hochhäuser schossen aus dem Boden und veränderten das Gesicht der Gemeinde für immer. Inmitten dieser stürmischen Entwicklung entstand der Wunsch, das Alte zu bewahren – eine Idee, die zur Gründung des Ortsmuseums führte, dessen Geschichte so bewegt ist wie die des Dorfes selbst.
Ein Lehrer mit Weitblick: Der rasante Wandel hatte eine Kehrseite: Was über Jahrhunderte das Leben in Spreitenbach geprägt hatte, drohte für immer zu verschwinden. Das erkannte der vielseitig begabte Lehrer und leidenschaftliche Sammler Kurt Wassmer. Er sah, wie Bauernhöfe modernen Bauten wichen, und befürchtete den Verlust des dörflichen Erbes. Kurzerhand begann er, alte Werkzeuge und Gerätschaften von aufgebenden Landwirten zu sammeln, sie zu entrosten und zu konservieren. Seine Vision war klar: Spreitenbach brauchte ein Ortsmuseum, einen Ort der Erinnerung.
Die Gründung: Die Idee fand fruchtbaren Boden. Als die Gemeinde den historischen Klosterspycher kaufte und restaurierte, war der perfekte Ort für das Museum gefunden. Um das Projekt auf eine solide Basis zu stellen, wurde am 2. Mai 1980 der Ortsmuseumsverein gegründet. Sein Ziel: die Sammlung treuhänderisch zu verwalten, das Museum zu betreiben und die Heimatkunde zu fördern. Während Kurt Wassmer der visionäre Initiant war, wurde Walter Trippel zur treibenden Kraft. Er übernahm das Amt des Präsidenten und sollte es für die nächsten zehn Jahre mit grossem Engagement ausfüllen.
Ein Museum erwacht zum Leben: Das Herzstück des neuen Museums war die Sammlung, die grösstenteils aus bäuerlichen Geräten aus Feld, Hof und Wald bestand – zusammengetragen aus der Bevölkerung. Passend zur jahrhundertelangen Tradition des Getreideanbaus lautete das Thema der ersten Ausstellung: "Ackerbau im Wandel der Zeit". Doch die Ausstellung war mehr als nur eine Ansammlung alter Gegenstände; sie wurde durch Literatur, Zahlen und Bilder ergänzt, um die Geschichte lebendig und verständlich darzustellen.
Eine entscheidende Rolle für die inhaltliche Tiefe spielte Walter Trippel. Nach seiner Pensionierung widmete er sich der Erforschung der Dorfgeschichte. Er verbrachte unzählige Stunden in Archiven, entzifferte alte Schriften und trug einen wahren Schatz an Informationen zusammen: Über 500 Dokumente und 20 Ordner voller Notizen. Er entdeckte faszinierende Geschichten – vom Reformator Zwingli, der über den Heitersberg marschierte, über die Vergangenheit Spreitenbachs als Weinanbaugebiet bis hin zur Burg, die in Spreitenbach nie gebaut wurde.

Das Aargauer Volksblatt berichtete am 6. Mai 1980 unter der Rubrik "Region Baden Aktuell" über die Gründung des Ortsmuseumvereins Spreitenbach.

Der ehemalige Speicher des Klosters Wettingen, der bis heute das Ortsmuseum beherbergt, steht seit 1951 unter kantonalem Denkmalschutz. 1976 erwarb die Ortsbürgergemeinde Spreitenbach den Spycher von der Erbengemeinschaft Bumbacher für rund CHF 90'000. Ein Jahr später bewilligte der Einwohnerrat Kredite in Höhe von rund CHF 300'000 für die Restauration und den Umbau in ein Ortsmuseum. Am 5. Oktober 1979 fand die Einweihung statt, verbunden mit der ersten Ausstellung: "Ackerbau im Wandel der Zeit" . (Informations-Quelle: Zusammenfassung über Kauf und Restauration des Spychers, von W. Trippel) Foto: Archiv Ortsmuseum, Urheber unbekannt.

Walter Trippel (14.9.1929 - 3.12.2017) wuchs in Uetikon am See auf und lebte seit 1964 in Spreitenbach. Unzählige Stunden verbrachte er in Staatsarchiven und verfasste zahllose Aufsätze über die historische Entwicklung Spreitenbachs. Foto: Archiv Ortsmuseum, Foto- und Filmclub Spreitenbach.

Adelheid Hürzeler leitete während 15 Jahren, bis zu dessen Auflösung, die Geschicke des Ortsmuseum-Vereins Spreitenbach. Sie habe vergebens Personen für eine Mitarbeit im Vorstand gesucht, bedauerte sie bei der Vereinsauflösung. Denn sie hätte gerne das Präsidium abgegeben und sich statt dessen auf die Museumsleitung konzentriert. Adelheid Hürzeler starb 2021 im Alter von 85 Jahren.
Foto: Archiv Ortsmuseum, Foto- und Filmclub Spreitenbach.

Eröffnung der ersten Ausstellung im renovierten Spycher am 5. Oktober 1979. Foto: Archiv Ortsmuseum, Foto- und Filmclub Spreitenbach.

Kurt Wassmer, Lehrer, Chronist und leidenschaftlicher Sammler. Er war Initiant und Mitbegründer des Spreitenbacher Ortsmuseums. Kurt Wassmer starb 1992 im Alter von 77 Jahren.
Foto: Archiv Ortsmuseum, Foto: Maja Burkhard, Zürich.
Das Museum schliesst seine Tore: Interne Konflikte im Vereinsvorstand, insbesondere nach dem Wechsel im Präsidium, lähmten die Entwicklung. Die Spannungen führten schliesslich zur Auflösung des Museumsvereins per 31. Dezember 2004 – und damit zur schmerzlichen Konsequenz: Das Ortsmuseum Spreitenbach musste im März 2005 seine Türen schliessen.
In einem Brief an den Gemeindeamman drückte Walter Trippel sein tiefes Bedauern aus. Er betonte, wie wichtig es sei, der Bevölkerung die reichhaltige Geschichte ihres Dorfes zu präsentieren, und bot seine gesamte Forschung und bereits ausgearbeitete Ausstellungskonzepte für die Zukunft an. Leider sind viele seiner Arbeiten verschollen.
Ein Funken Hoffnung: Seither war es still im Klosterspycher. Nur Rudolf Kalt und Adelheid Hürzeler führten auf Anfrage noch gelegentlich durch das Museum. Doch die Geschichte des Museums ist noch nicht zu Ende geschrieben. Mit den Worten: "Ich glaube an das weitere Leben nach dem Tod, und somit auch an die Wiederauferstehung des Museumvereins" schloss Walter Trippel seine Rede bei der Auflösung des Vereins. Vielleicht geht sein Wunsch in Erfüllung. Denn es scheint sich ein neues Kapitel für das historische Erbe Spreitenbachs aufzuschlagen. Eine von der Gemeinde eingesetzte Arbeitsgruppe steht bereit, die Fackel zu übernehmen. Ihre Mission ist es, auf dem unschätzbaren Fundament aufzubauen, das Pioniere wie Kurt Wassmer und Walter Trippel mit ihrer unermüdlichen Leidenschaft geschaffen haben. Nun wächst die Hoffnung auf eine Wiedergeburt - nicht des Vereins, aber zumindest auf eine Wiederauferstehung des Ortsmuseums.
R.H.