Geschichten aus der Geschichte

Als der "Sternen" noch drei Sterne hatte

"Hochwohlgebohrne Hochgeachte Herren. Schon viele Jahre her wird in der Gemeinde Spreitenbach das Bedürfnis einer Tavernenwirthschaft gefühlt, und nur eingetretene Kriegszeiten, politische Ereignisse, Verminderung der Handlungsgeschäfte und unter weilen auch Fehljahre in Frucht und Wein hielten bis anhin die Bewilligung einer solchen Wirthschaft zurück." 

 

(Balthasar Wiederkehr, 21. Juni 1819)

 

 

Die Geburt eines Wahrzeichens

Jahrhundertelang diktierten alte Gesetze das gesell-schaftliche Leben der Spreitenbacher. Gemäss dem ehaften Tavernenrecht des Klosters Wettingen besass allein die "Krone" in Dietikon das Privileg, grosse Feste auszurichten. Für Hochzeiten und Taufmähler mussten die Spreitenbacher den Weg in die Nachbargemeinde auf sich nehmen. Ein Vergleich im Verlaufe des Bauernkrieges im Jahr 1653 lockerte diese Regelung zwar, doch der Wunsch nach einem eigenen, vollwertigen Gasthof blieb im Dorf tief verwurzelt – ein Symbol für die eigene Identität und Autonomie.

Diesem Bedürfnis gab Gemeinderat Balthasar Wiederkehr eine Stimme, als er am 21. Juni 1819 ein Gesuch an die Regierung richtete. Sein Ziel war es, seine bescheidene Pintenschenke in eine vollwertige Tavernenwirtschaft umzuwandeln. Seine Begründung war ebenso pragmatisch wie weitsichtig: Ein Gasthof würde nicht nur den zahlreichen Reisenden und Pilgern auf der wichtigen Strasse über den Heitersberg nach Einsiedeln dienen, sondern er würde vor allem dafür sorgen, dass das «Ohmgeld» – die lukrative Getränkesteuer – endlich in der Gemeindekasse bliebe und nicht länger nach Dietikon abflösse. 

Das Gesuch wurde am 1. September 1819 bewilligt, und der neue Gasthof erhielt den Namen «zu den drei Sternen». Im Jahr 1820 wurde das stattliche Gebäude errichtet, dessen Jahreszahl stolz über der Eingangstür eingemeisselt war. 

 

Mehr als nur ein Gasthaus

Im Jahr 1858, 38 Jahre nach seiner Erbauung durch die Familie Wiederkehr, erwarb Kaspar Lienberger den Gasthof. Nach einer Schliessungsperiode ab 1884 übernahm sein Sohn Adolf Lienberger 1890 den Betrieb. Durch die Heirat seiner Tochter Anna Lienberger mit Jakob Stauffacher ging der "Sternen" schliesslich in den Besitz der Familie Stauffacher über, die ihn für den grössten Teil des 20. Jahrhunderts führen sollte.

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Gasthof um den berühmten "Sternen"-Saal erweitert. Seine Architektur war eine meisterhafte Verbindung von Ästhetik und ländlicher Zweckmässigkeit: Der Saal wurde auf massive Mauerpfeiler gebaut, um dem parallel geführten Landwirtschaftsbetrieb nicht im Wege zu stehen. So konnten die Fuhrwerke ungehindert unter dem Festsaal hindurch zum Tenn und zum Miststock fahren. Im Innern versprühte der Saal eine besondere Atmosphäre, geprägt von einer kleinen Wandempore für die Musiker – im Volksmund liebevoll «Gigebock» genannt.

 

Ein geradezu ikonisches Foto aus dem frühen 20. Jahrhundert. Der Gasthof "Zu den drei Sternen" am Sternenplatz im Dorfzentrum Spreitenbach. 

Foto: Archiv des Ortsmuseums, Urheber unbekannt.

Die Helvetische Republik brachte ab 1798 tiefgreifende Veränderungen. Mit der Aufhebung der alten ehaften Rechte kam es zu einem sprunghaften Anstieg von Wirtschaften, die "wie Pilze aus dem Boden wuchsen". Um diese Entwicklung zu regulieren, führten die Behörden ab dem 1. Januar 1801 neue Wirtepatente für den Ausschank von Wein und geistigen Getränken ein. Dieser Wandel schuf eine neue Rechtsordnung und damit die entscheidende Grundlage für die spätere Gründung eines vollwertigen Gasthofs in Spreitenbach. Balthasar Wiederkehr nutzte die Gunst der Stunde mit seinem "Ansuchen" um Bewilligung einer Tavernen-Wirtschaft in Spreitenbach. Der Gemeinde Spreitenbach obliege der Unterhalt der Strasse über den Heitersberg, was ihr viel Arbeit und Kosten verursache, argumentierte Wiederkehr und fügte an, "zu deren Deckung sey das Ohmgeld eine vorzügliche Quelle". Kopie aus dem Staatsarchiv des Kantons Aargau.

Am 1. September 1819 bewilligte der "Rath" des Kantons Aargau das Gesuch des Balthasar Wiederkehr zu Spreitenbach und erteilte dem Lokal mit dem "Aushängeschild zu den drei Sternen" das Patent als Tavernenwirtschaft.  Dieses war bis zum "31 Christmonat 1820 gültig, insofern in dieser Zeit gute Ordnung und Polizei beobachtet, das Ohmgeld getreulich entrichtet, und den Vorschriften desselben nachgelebt wird." Kopie aus dem Staatsarchiv des Kantons Aargau.

Kurz vor dem Abbruch des "alten Sternen" war das schmiedeeiserne Wirtshausschild plötzlich verschwunden. Aber nicht gestohlen, sondern von einem besorgten Ortsbürger bei Nacht und Nebel in Sicherheit gebracht worden, um es vor der Zerstörung zu bewahren - eine rührende Geste der Wertschätzung. Foto: Archiv des Ortsmuseums, Urheber unbekannt.

Ein Pferdegespann vor dem Gasthof "zu den drei Sternen". Foto:  Archiv des Ortsmuseums. Urheber unbekannt.

Legendär: Die einzigartigen Wandmalereien im Sternensaal. Diese zeigten dramatische Szenen aus der Tell-Sage und Sinn-Sprüche. Sie wurden vor dem Ersten Weltkrieg von einem heute unbekannten lokalen Künstler geschaffen. Gereinigte und aufwändig rekonstruierte Negative aus dem Bestand des Ortsmuseums. Urheber: Vermutlich Michael Fuchs, Hägglingen, 1998.

Der Versuch, die wertvollen Tell-Bilder zu retten, scheiterte auf tragische Weise. Die Malereien waren auf Jute aufgetragen und durch das jahrelang einsickernde Regenwasser so mürbe geworden, dass sie bei dem Versuch zerfielen, sie von der Wand zu lösen. Ein unersetzlicher Kunstschatz ging für immer verloren.

Die letzten Tage einer kulturellen Institution. Am 20. Mai 2000 fielen die Würfel gegen den alten "Sternen". Der Abbruch war für viele Spreitenbacher mehr als nur der Abriss eines Gebäudes; es war ein Abschied von einem Stück Heimat.

Polaroid-Foto aus dem Archiv des Ortsmuseums. Urheber unbekannt.

Grundstein für neu-spreitenbach

Der «Sternen» avancierte zur Seele des Dorfes. Hier wurde nicht nur getrunken und gegessen, hier pulsierte das Leben in all seinen Facetten. Der grosse Saal war so bekannt, dass selbst Vereine aus Dietikon ihre Abendunterhaltungen hier durchführten. Die legendären Fasnachtsbälle galten als Geheimtipp, der Liebhaber von weither anzog, und die Flieger des nahen Flugplatzes zählten zu den Stammgästen.

Während des Zweiten Weltkriegs diente das Haus als Einquartierungsort für Soldaten, und über Generationen hinweg war es die Bühne für Theateraufführungen, Turnvorstellungen und unzählige Hochzeitsfeiern.

Vor allem aber war der "Sternen" bis in die frühen 1960er-Jahre der offizielle Versammlungsort der Gemeinde. Und 1958 fand hier ein wegweisendes Symposium statt, das als gedanklicher Grundstein für die Entwicklung des modernen "Neu-Spreitenbach" gilt. Diese Veranstaltung markierte die Rolle des "Sternen" als Schmelztiegel für den Wandel der Gemeinde vom ländlichen Bauerndorf zur modernen Agglomerationsgemeinde.

 

 

das ende einer ära

Ab 1961 führte Jakob "Schaggi" Stauffacher-Meier den Gasthof in die nächste Generation. Sein plötzlicher Tod Anfang 1995 markierte eine tiefgreifende Zäsur. Der Betrieb wurde geschlossen, und das einst belebte Gebäude verfiel zusehends. Insbesondere der Saalanbau, der als der "morscheste" Teil des gesamten Komplexes galt, litt stark. Durch das undichte Dach drang Regenwasser ein und beschädigte die einzigartigen Wandbilder, die langsam zu verblassen begannen. 

Die Wehmut über die Schliessung wich bald einer hitzigen Debatte über die Zukunft des historischen Dorfzentrums. Der "Sternen" wurde zum Symbol eines tiefen Konflikts in der Gemeinde: dem Ringen zwischen dem Respekt vor dem historischen Erbe und den als unumgänglich erachteten Realitäten des materiellen Verfalls. Das Schicksal des Gebäudes spaltete die öffentliche Meinung und entfachte eine emotionale Debatte.

Die Entscheidung fiel an der Ortsbürgerversammlung vom 30. Mai 2000. Die Versammlung stimmte dem Kauf der Liegenschaften "Sternen" und "Groth" durch die Ortsbürgergemeinde zu. In einer separaten Abstimmung wurde auch der Kredit für den Abbruch beider Gebäude angenommen. Das Schicksal des alten "Sternen" war damit besiegelt.

Mit dem Abbruchhammer ging ein 180 Jahre altes Gebäude mitsamt seiner einzigartigen Kunst unwiederbringlich verloren.

 

 

Was bleibt sind Erinnerungen

Die Mauern sind gefallen, der Saal ist längst verstummt. Was bleibt, ist mehr als nur eine Lücke im Dorfkern. Doch der "alte Sternen" lebt weiter in den Erinnerungen derer, die dort Feste feierten, Politik machten und Gemeinschaft erlebten. Er ist zum Symbol für eine vergangene Ära des dörflichen Zusammenhalts geworden. Vielleicht erinnert sich noch jemand an eine Anekdote und berichtet uns darüber, damit die "Taverne zu den drei Sternen" fest in der Geschichte von Spreitenbach verankert bleibt.

 

 

die wiedergeburt des Sternen

Seit bald zwanzig Jahren gibt es ihn wieder, den "Sternen" in Spreitenbach. Der Wiederaufbau war mehr als nur ein Bauprojekt. Er war eine bewusste Entscheidung der Ortsbürgergemeinde, eine zentrale Institution des Dorflebens nicht einfach verschwinden zu lassen, sondern ihre Tradition für die Zukunft neu zu interpretieren und an historischer Stätte fortzuführen.

Nach einer langen Planungs- und Bauzeit war es schliesslich so weit: Am 31. März 2008 wurde der Gasthof Sternen wiedereröffnet - neu, modern und für eine neue Generation von Gästen.

Ein Relikt aus der Blützeit des "alten Sternen": Der Original-Strohut des "Sternen Schaggi". Ein Exponat des Ortsmuseums Spreitenbach, gespendet von Frau Nicole Meier, Killwangen.

Text R.H. basierend auf einem Traktat von W. Trippel und ergänzenden Recherchen im Staatsarchiv des Kt. Aargau, Badener Woche vom 6.4.2000, Heinz Fröhlich, Aargauer Zeitung vom 14.4.2000, Aargauer Zeitung vom 9.3.2001. Ein besonderer Dank geht an das Staatsarchiv des Kantons Aargau für die grosszügige Unterstützung des Ortsmuseums Spreitenbach. 

 

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